EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy ahnte die Gefahr. Gleich zu Beginn seiner Rede am Dienstag vor dem Europäischen Parlament in Straßburg kam er auf das Problem zu sprechen, dass in der EZB-Spitze und auch sonst in wichtigen Positionen keine oder nur wenige Frauen zu finden sind. Er habe den Regierungschefs vergangene Woche gesagt, dass man in Zukunft eine Balance zwischen Männern und Frauen anstreben müsse. Nach dieser Zusage hoffe er darauf, dass Mersch vom Parlament bestätigt werde, die Sache sei schließlich "dringend". Tatsächlich ist der sechste Platz im EZB-Direktorium seit Juni nicht mehr besetzt.
Genutzt hat Van Rompuys Intervention nicht viel. Hannes Swoboda, der Fraktionschef der Sozialdemokraten, donnerte in seiner Antwort: "Herr Van Rompuy, das genügt uns nicht". Der Ratspräsident habe nur die Lage beschrieben, aber keine klare Zusage gemacht. Bisher waren Diplomaten und die Spitze der EZB davon ausgegangen, dass die beiden großen Fraktionen, also Christdemokraten und Sozialdemokraten, am Ende für Mersch stimmen würden. Nun sind es nur noch die Christdemokraten von der EVP, auf die sich der Luxemburger Zentralbankchef einigermaßen verlassen kann.
Grüne, Linke und mehrheitlich auch die Liberalen dürften gegen Mersch votieren. Abgeordnete von CDU und CSU dagegen reagieren empört: "Das Parlament macht sich langsam lächerlich, den zweifelsfrei besten Kandidaten für das Amt unter dem Deckmantel des Geschlechterproporz abzulehnen", sagte der CSU-Abgeordnete Markus Ferber. Mersch stärke die stabilitätsorientierte Fraktion im EZB-Rat.
Ferber forderte die Regierungen auf, den Parlamentsbeschluss im Zweifelsfall zu missachten. Rechtlich wäre das kein Problem. In Artikel 283 des EU-Vertrages ist nur von einer Anhörung des EP die Rede, danach können die Regierungschefs entscheiden, wie sie wollen. Nötig ist eine Zwei-Drittel-Mehrheit der Regierungen. Eine solche offene Brüskierung des Parlaments wäre aber ungewöhnlich, zumal das Parlament in den nächsten Wochen dringend gebraucht wird - für die Finanzplanung und für einen schnellen Gesetzesbeschluss zur Bankenunion.
Die Ablehnung durch die Abgeordneten wäre ein Erfolg für die Frauen im Parlament. Das Hauptargument der Wortführerin Sylvie Goulard von den französischen Liberalen ist, dass bis 2018 kein Platz mehr im EZB-Direktorium frei wird und damit Frauen so lange keine Chance haben.
"Wir sind dagegen, dass die mächtigste Institution der EU für die nächsten sechs Jahre ausschließlich von Männern geleitet wird", sagte die liberale britische Ausschussvorsitzende Sharon Bowles nach der Abstimmung im Ausschuss.
Um die Benennung Merschs tobt seit Monaten eine harte Auseinandersetzung zwischen den Mitgliedsstaaten und dem Parlament. Den seit langem geplanten Einzug Merschs ins Direktorium hat der Konflikt bislang verhindert. Die Abgeordneten haben nie Merschs Eignung in Zweifel gezogen. Viele kritisierten aber die mangelnde Berücksichtigung von Frauen. EZB-Präsident Mario Draghi hatte den Schwebezustand unlängst scharf kritisiert. Seit Juni sitzen im Direktorium nur fünf statt sechs Notenbanker. Gerade in Zeiten einer Krise müsse das Direktorium vollständig sein, sagte Draghi.
Zuletzt hatte die Benennung aber auch innerhalb des Parlaments für viel Zoff gesorgt. Vor allem konservative Abgeordnete kritisierten mit zunehmender Dauer der Debatte, dass der Streit um die Gleichberechtigung nun auf dem Rücken Merschs ausgetragen werde. Sie monierten, dass bei den jüngsten Benennungen des Deutschen Jörg Asmussen und des Franzosen Benoit Coeuré ins EZB-Direktorium keinerlei Diskussionen um die Geschlechterfrage angezettelt worden sei - obwohl auch damals schon nur Männer in dem Gremium saßen. Nun werde diese Frage auf Kosten eines kleinen Landes debattiert.
Die Frage der Gleichberechtigung und die Auseinandersetzung der Parlamentarier nahm auch bei der Anhörung Merschs einen großen Teil der Zeit in Anspruch. Goulard sagte, es sei ein schlechtes Signal an 50 Prozent der europäischen Bevölkerung - die Frauen -, wenn in den Spitzengremien der EZB keine Frau vertreten sei. Ihr Parteikollege Olle Schmidt legte Mersch sogar nahe, freiwillig seine Kandidatur zurückzuziehen, um so den Weg für ein neues Nominierungsverfahren frei zu machen - bei dem auch Frauen eine Chance hätten. Tatsächlich war das Verfahren aber offen, kein Land benannte aber eine weibliche Kandidatin.
Mitunter fielen in der Anhörung auch sehr scharfe Worte. Der sozialdemokratische Abgeordnete Robbert Goebbels etwa bezeichnete das Hinhalten Merschs als "skandalös" und "Spektakel", bei dem der Luxemburger zu einem "Sündenbock" gemacht werde. Der CDU-Abgeordnete Werner Langen warnte: "Das Parlament macht sich lächerlich, wenn es so weitermacht wie bisher". Der konservative EU-Finanzexperte Burkhard Balz sprach nach der Abstimmung von einer "Farce". "Dieses Votum wird der exzellenten fachlichen Qualifikation des Kandidaten überhaupt nicht gerecht", sagte Balz.
Am Ende stimmten 20 Abgeordnete für den Antrag, Mersch abzulehnen. 13 stimmten dagegen, unterstützen also die Kandidatur des Luxemburgers. 12 Abgeordnete enthielten sich. Die Zahl der Mersch-Befürworter und der Enthaltungen lag am Montag also über der Zahl derjenigen, die Mersch ablehnten.
Mersch selbst versuchte am Montag, sich weitestgehend aus diesem Streit herauszuhalten. Er bekannte sich zu dem im EU-Vertrag festgeschriebenen Grundsatz der Gleichberechtigung. Er räumte zudem ein, dass es in der EZB wie in den nationalen Zentralbanken ein Problem mit der Repräsentanz von Frauen gebe. Das Thema müsse angegangen werden, allerdings gehe das "nicht von einem Tag auf den anderen". Ein Problem sei etwa, dass in den entsprechenden Fachrichtungen vor 30 bis 40 Jahren vor allem männliche Absolventen von den Universitäten gekommen seien. So etwas lasse sich "nur über die Zeitschiene" ändern.