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ICE 4 ohne Abteile : Keiner will mehr reden

Im Abteil hingegen zieht sich mancher Fahrgast erst mal die Schuhe aus, wie nach Feierabend vorm Entern des heimischen Sofas. Und noch immer gibt es die Ehefrau, die den Gatten mit hartgekochten Eiern und Buletten aus der Tupperdose versorgt. Im Zugabteil kann sich Gemütlichkeit ungehindert ausbreiten, ebenso wie die Speise- und Körperdünste der Reisenden; das Gegenteil gilt für deren Beine, die in artistischen Verrenkungen versuchen, den Kniekontakt mit dem Gegenüber zu meiden.

Wer sich auf einem Platz der Sechser-Sitzgruppe wiederfindet, der ist, ob er es nun will oder nicht, Teil einer intimen Gemeinschaft. Hier ist man unter sich – erst recht, wenn die Schiebetür geschlossen bleibt oder, sofern es welche gibt, die Vorhänge zugezogen sind. Die Bekannte eines Bekannten fühlte sich vor einiger Zeit gar dermaßen heimisch in ihrem vollbesetzten Sechser-Abteil, dass sie die Transportbox ihrer Katzen öffnete und die Tierchen ein wenig herumtollen ließ. Reaktionen der Mitreisenden sind nicht überliefert.

Flirten im Großraumwagen?

Ohne Abteile wird das Reisen anonymer. Einen Verlust dürfte dies auch für die Website bahnflirts.de bedeuten, welche die Aufrufe einsamer Reisender versammelt, die den Anschluss verpasst haben: „Hallo attraktive und interessante Frau aus Frankfurt (bzw. aus Hamburg). Wir saßen gestern zusammen in einem 6er Abteil um 20:09 von Stuttgart bis nach Heidelberg (...) Ich hatte den Eindruck, dass wir einen Moment hatten und uns auch mal tiefer in die Augen geschaut haben. Leider habe ich mich nicht getraut, Dich nach Deiner Nummer zu fragen, vielleicht weil dann noch die 3 anderen Mädels mit Dirndl in dem Abteil saßen.“ Hätten beide im Großraum einander in die Augen geblickt?

Die einzige Ausnahme: Nur für Familien gibt es im ICE 4 noch gesonderte Abteile.

Doch nicht nur zum Augenkontakt lud das Zugabteil ein. Wie viele junge Pärchen mögen den kurzen Zustand unverhoffter Privatheit (zugezogene Vorhänge!) für ihr erotisches Initiationserlebnis genutzt haben? Zumal in einem Abteil, in dem die ausgezogenen Sitze eine schöne Liegefläche ergaben? Und wie viel weniger bunt wären die Erinnerungen der Interrail-Jugend, hätte sie auf ihren Trips durch Europa keine Gleichgesinnten in den Abteilen getroffen?

Auch für die Literatur wertvoll

Auch der junge Emil Tischbein hat im Zugabteil interessante Bekanntschaften gemacht, als ihn Erich Kästner 1929 im Buch „Emil und die Detektive“ von Neustadt nach Berlin schickte. In Emils Abteil saßen ein Herr, der schrecklich schnaufte, eine Dame, die einen Schal häkelte, die dicke Frau Jakob aus Groß-Grünau, die sich – man ist ja unter sich – einen Schuh ausgezogen hatte und Emil Grüße an den Schnittwarenhändler Kurzhals auftrug, sowie der Herr Grundeis mit dem steifem Hut, der Emil Schokolade anbot – und ihm später, als Emil schlief und alle anderen Fahrgäste längst ausgestiegen waren, die 140 Mark klaute, die für Emils Großmutter gedacht waren.

Dass das Abteil Verbrechen begünstigt, soll hier nicht verschwiegen werden. Im vollen Großraumwagen hätten in Patricia Highsmiths „Zwei Fremde im Zug“ Guy und Bruno kaum so ungeniert ihre perfiden Mordpläne schmieden können, und auch zur Ausführung eines Mordes – wie im Miss-Marple-Fall „16 Uhr 50 ab Paddington“ – eignet sich das Abteil ungleich besser.

Raub, Mord und Totschlag im Abteil

Doch beileibe nicht jeder Mord im Zug ist nur die Kopfgeburt eines abgebrühten Thriller-Autors. Um 1860 herum gab es gar eine ganze Welle von Eisenbahnmorden, wozu erheblich beigetragen haben dürfte, dass ein Abteil seinerzeit ein völlig isolierter Raum war. In der Frühzeit der Eisenbahn hatte man eine Reihe von Postkutschenwagen auf ein Fahrgestell montiert; damit bestanden die Züge aus voneinander getrennten Abteilen, die man nur beim Halt durch eine Seitentür verlassen konnte. Gerade Fahrgäste in der Ersten Klasse wurden überfallen, getötet und auch mal in einem Tunnel aus der Bahn geworfen. Hilfe zu holen war während der Fahrt niemandem möglich.

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