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ICE 4 ohne Abteile : Keiner will mehr reden

Eine besonders traumatische Zugreise durchlitt im Januar 1901 die Engländerin Rhoda King, die auf der Fahrt von Southampton nach London miterleben musste, wie ein Mitreisender einen anderen Mann erschoss. Sie selbst wurde durch eine Kugel verletzt. Allein im Abteil mit dem Mörder, auf den sie tapfer einredete, musste King weiterfahren, bis er in Vauxhall endlich ausstieg.

Etwas sicherer wurde das Reisen erst, als gegen Ende des 19. Jahrhunderts Züge eingeführt wurden, bei denen die Abteile durch einen Seitengang verbunden wurden, wie man es noch heute kennt. In Deutschland fuhr der erste dieser sogenannten Durchgangszüge, kurz D-Zug genannt, im Jahr 1892.

Die Beatles und Harry Potter

Mord und Totschlag sind zum Glück selten geworden bei Bahnfahrten. Die Konflikte, die Abteilreisende austragen, sind meist harmloserer Natur und kreisen etwa darum, ob die Heizung höher gedreht oder ob – in älteren Zügen – das Fenster geöffnet werden soll. Ein solcher Streit ums Fenster trägt 1964 im Film „A Hard Day’s Night“ Züge eines Klassenkampfes, wenn im Erste-Klasse-Abteil der soignierte „Financial Times“-Leser die aufmüpfigen Beatles in die sozialen Schranken zu weisen versucht, was spätestens mit John Lennons kühner Aufforderung „Gib uns einen Kuss!“ als gescheitert gelten muss.

Wie ein Abteil zusammenführen kann, was zusammengehört, zeigt sich wiederum im ersten „Harry Potter“-Band im Hogwarts-Express: Indem Harry den rothaarigen Ron zu sich ins Abteil lädt und mit ihm Schokofrösche teilt, statt sich zum fiesen Draco Malfoy und seinen Kumpanen zu setzen, reiht er sich unbewusst bei den Guten ein und nimmt die Einteilung vorweg, die später im Internat der Sprechende Hut unter den Schülern vollzieht.

Mehr Sitzplätze, weniger Austausch

Schicksalhafte Begegnungen, flüchtige Romanzen, der spontane Austausch mit Leuten, die wir andernorts nie ansprechen würden: All das, was den „fliegenden Salon“ ausmachte, wie Joseph von Eichendorff das Zugabteil nannte, wird mit ihm verschwinden. Im Jahr 2023 sollen in Deutschland 130 Züge des neuen ICE-Typs fahren, die alten Modelle werden nach und nach ersetzt.

Für die Bahn ist das nicht allein eine Frage veränderter gesellschaftlicher Bedürfnisse, sondern vor allem eine der Wirtschaftlichkeit: Dank der neuen Großraumwagen lassen sich in jedem Zug 830 Sitzplätze unterbringen, mehr als je zuvor. Das gute alte Bahnabteil, das es in vielen Regionalzügen ohnehin nicht mehr gibt, wird eines Tages aussterben wie das Testbild und die Telefonzelle.

Bahn-Nostalgiker müssen darauf hoffen, dass es in anderen Ländern mit einer kommunikativeren Bevölkerung länger erhalten bleibt – in Polen beispielsweise, wo man sich im Abteil keine zwei Minuten anschweigt und noch jede Zugfahrt mit einer Verbrüderung endet. Und auch Joanne K. Rowling hat jüngst in ihrem „Harry Potter“-Nachzüglerband den Hogwarts-Express nicht durch einen ICE4 ausgetauscht, sondern Harrys Sohn ganz traditionell in ein Abteil gesetzt, in dem er sich mit dem Sohn des Erzfeindes seines Vaters anfreundet: Zeit für ein neues Abenteuer.

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