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Warum sich die Bahn von der Neigetechnik verabschiedet

| Lesedauer: 4 Minuten
Politikredakteur
Dank Neigetechnik können sich Dieseltriebzüge der Baureihe 612 (hier bei Saalfeld) in die Kurve legen und somit schneller fahren. Aber wegen technischer Probleme wurde der Mechanismus abgeschaltet Dank Neigetechnik können sich Dieseltriebzüge der Baureihe 612 (hier bei Saalfeld) in die Kurve legen und somit schneller fahren. Aber wegen technischer Probleme wurde der Mechanismus abgeschaltet
Dank Neigetechnik können sich Dieseltriebzüge der Baureihe 612 (hier bei Saalfeld) in die Kurve legen und somit schneller fahren. Aber wegen technischer Probleme wurde der Mechanis...mus abgeschaltet
Quelle: picture-alliance / ZB
Neigezüge wurden als Verheißung gepriesen: Weil sie sich in die Kurve legen, fahren sie schneller, und Strecken müssen nicht umgebaut werden. Doch die Technik hat enttäuscht. Jetzt wird es teuer.

Freuen können sich Leute mit empfindlichem Magen. Die meisten Neigetechnik-Züge der Deutschen Bahn AG legen sich vorerst nicht mehr in die Kurven. Weitgehend abgeschaltet wurde der Mechanismus, der die Triebfahrzeuge bei Kurvenfahrten in Schräglage bringt und ihnen dadurch mehr Tempo ermöglicht. Aufatmen dürften alle jene, denen bei diesem „bogenschnellen Fahren“ schlecht wird.

Aber stöhnen dürften Provinzbewohner, die auf kurvigen Strecken zu größeren Bahnhöfen fahren müssen. Dort verpassen sie, weil es mangels Neigetechnik langsamer geht, so manchen Anschluss.

Daran dürfte sich wenig ändern. Denn das Interesse der DB an der Neigetechnik scheint gering zu sein. „Der Einsatz von Neigetechnik-Triebzügen wird nach unserer Einschätzung nicht nur in Deutschland ein Sonderfall bleiben“, heißt es in einem Brief des DB-Vorstandsvorsitzenden Rüdiger Grube an den Grünen-Verkehrspolitiker Matthias Gastel. Bei den Bahnbetreibern also ist die Nachfrage gering. Und genauso gering, nämlich „nachfragegerecht“, seien bei der Neigetechnik die „Weiterentwicklungsaktivitäten“ der einschlägigen Hersteller, heißt es in dem Schreiben, das der „Welt“ vorliegt.

Erst hakte es bei ICEs, dann bei Regionalzügen

Bei der DB ist in puncto Neigetechnik viel schiefgelaufen (beziehungsweise nicht schief). Es begann beim schlanken ICE T. Bei ihm wurde wegen Auffälligkeiten an den Achsen sicherheitshalber die nicht unmittelbar schadhafte Neigetechnik schon vor einiger Zeit abgeschaltet. Das werde „bis auf Weiteres“ so bleiben, sagt ein Bahnsprecher.

Und jüngst wurde auch das Kippen bei den meisten Regionaltriebzügen der Baureihen 611 und 612 beendet. Sie legten sich bislang vor allem in die Kurven Baden-Württembergs und Bayerns, Thüringens und Sachsens. Das wurde weitgehend gestoppt.

Denn es besteht Anlass zur Befürchtung, dass sich diese Triebzüge nach einer Kurve nicht wieder aufrichten könnten. Mit einem dauerhaft um 8,6 Grad geneigten Zug kann man natürlich nicht fahren. Es wäre auch gefährlich. „Das Risiko einer Berührung mit einem anderen Eisenbahnfahrzeug“, so der Grube-Brief, könne „nicht ausgeschlossen werden“.

Grund der Probleme ist, dass bei einigen Zügen dieser Baureihen ein falsches Bauteil im Lager des Neigetechnik-Antriebs steckt. Weil man aber nicht weiß, in welchem Zug das der Fall ist, muss jetzt bei allen nachgeguckt werden. Bis dahin fahren fast alle aufrecht. Ab Ende Februar sollen fehlerfreie Züge in Ostbayern gebündelt und wieder geneigt werden.

Kaputte Neigetechnik gefährdet Takt-Fahrpläne

Probleme mit der Neigetechnik gibt es auch in der Schweiz. Gute Erfahrungen macht man hingegen in Italien mit der „Pendolino“-Technik. Die funktioniert dort hydraulisch. In den deutschen Baureihen 611 und 612 aber geht’s elektrisch, und das scheint Probleme zu machen.

Dass deshalb jetzt diese Regionalzüge ohne Neigetechnik langsamer fahren, trifft die Kunden. Laut Grube-Brief muss die DB allein in Baden-Württemberg, um die Taktfahrpläne einzuhalten, mehrere Zughalte entfallen lassen. Zudem werden nicht mehr alle Fernzuganschlüsse erreicht.

Dobrindt und Grube stellen ICE 4 in Berlin vor

Ein umweltfreundliches Antriebskonzept und bis zu 250 km/h soll der ICE 4 bieten. Er wird derzeit noch getestet. Im echten Betrieb eingesetzt wird der ICE 4 erst Ende 2017.

Quelle: Reuters

Damit aber gefährdet die Neigetechnik-Malaise ein politisches Großprojekt. Nämlich den für 2030 anvisierten Deutschland-Takt mit schnellen Umsteigemöglichkeiten im ganzen Land. Hierfür ist erforderlich, dass es Regionalzüge rechtzeitig bis zu Umsteigebahnhöfen schaffen, wo stündlich oder halbstündlich Fernzüge abgehen. Wenn jetzt aber Regionalzüge mangels Neigetechnik bummeln müssen, gerät das Konzept durcheinander.

Misslich ist das für Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU). Der will den Deutschland-Takt bis 2030 realisieren und lässt dafür derzeit einen Ideal-Fahrplan aufstellen, an dem man die noch nötigen Maßnahmen ausrichten kann. Und bisher schien es, als könne die Neigetechnik eine Maßnahme sein: Das Kippen sollte Züge auf Kurvenstrecken beschleunigen und somit dem Steuerzahler die teure Streckenbegradigung ersparen.

Mehr Tempo nur durch Streckenausbau?

Nun aber scheint es damit nichts zu werden. Grube jedenfalls orakelt, es sei „im Einzelfall zu untersuchen“, ob Investitionen in Neigetechnik „technisch und gesamtwirtschaftlich sinnvoll“ seien. Wären sie das nicht, müsste Dobrindt sehr viel zusätzliches Geld in den Streckenausbau stecken.

Der Grünen-Politiker Gastel, der Grube um die Auskünfte gebeten hatte, verlangt eine baldige Klärung. Das betreffe zunächst die Technik. Da sich „die in Deutschland verwendete Neigetechnik als extrem störungsanfällig erwiesen“ habe, müsse sich jetzt die „Bahnbranche darüber verständigen, auf welcher Basis die Neigetechnik eine Zukunft in Deutschland haben kann“.

Gefordert sei aber genauso der Bund als Eigentümer der Schienenwege. Denn es geht um die Frage nach Investitionen in Strecken. Nötig sind die auch bei der Neigetechnik. Bei ihr muss man Geld ausgeben – allerdings nicht sehr viel –, um spezielle Steuerungs- und Sicherungssysteme am Gleis zu installieren. Das aber würde nur den kippfähigen Zügen dienen.

Hingegen führen alle Züge schneller – auch Güterzüge –, wenn die Strecke begradigt würde. Nach Ansicht von Gastel muss sich der Bund „darüber klar werden, ob er noch in Infrastrukturanpassungen für einzelne Zugtypen investiert oder nicht besser einen Infrastrukturausbau für alle Züge betreibt“. Letzteres ist teurer.

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