Ein Lokführer erzählt Wie ein Selbstmörderin mein Leben zerstörte

Statistisch gesehen überfährt jeder Lokführer in seinem Arbeitsleben drei Menschen. Aber niemand spricht darüber. Hier bricht Lokführer Stefan W. (49) das Tabu

Lokführer Stefan W.: „Als sich eine Frau vor meinen Zug warf, zerstörte sie auch mein Leben“
Vor drei Jahren stellte sich eine Frau ins Gleisbett vor den ICE von Lokführer Stefan W. (49). Der Unfall hat den Familienvater krank gemacht, er leidet an posttraumatischer Belastungsstörung, einer psychischen Erkrankung wie Soldaten sie häufig nach Kriegseinsätzen bekommenFoto: Niels Starnick

Die Frau im Gleisbett wartet auf den Zug, der sie töten soll. Um 15.32 Uhr am 21. November 2012 rammt Lokführer Stefan W. (49) einen Gegenstand, den er durch den Nebel nur schemenhaft wahrnimmt. Er hat keine Chance, seinen 800-Tonnen-ICE rechtzeitig zu stoppen. 200 Stundenkilometer ist der Zug schnell, der Bremsweg beträgt einen Kilometer.

Der Oberkörper der „Täterin“, wieder Lokführer die Selbstmörderin nennt, wird vom Zug aufgespießt, den Rest finden Spurensicherer über 1000 Meter weit verteilt. Dass es ein Mensch war, den er überfahren hat, weiß Stefan W. erst, nachdem er Fetzen von Kleidung an den menschlichen Überresten erkannt hat.

„PU“ heißt so ein Zusammenprall in der Bahn-Sprache, die Abkürzung für Personenunfall. Das klingt weniger grausam als „Selbstmörder“, wenn man den Passagieren in einer Durchsage erklären muss, warum ihr Zug plötzlich nicht weiterfährt.

Statistiken besagen, dass jeder Lokführer in seinem Berufsleben durchschnittlich drei Menschen überfährt. Aber Statistiken zeigen nicht, was sie nach einem „PU“ durchmachen.

Genau das will Stefan W. nun beschreiben. Er spricht mit BILD am SONNTAG über den schlimmsten Moment seines Lebens, und was dieser aus ihm gemacht hat. „Mein Leben geriet aus den Fugen“, sagt er. Als wäre er in einen dunklen Tunnel eingefahren, ohne Ausweg.

Drei Jahre nach dem Tag, an dem es ihn „erwischte“, wie Stefan W. das ausdrückt, hat er die zweite Reha hinter sich, eine dauerte sechs, die andere sieben Wochen. In vielen Nächten kommt er nur durch Schlafmittel zur Ruhe. Und wenn W. es schafft, die Augen zu schließen, sieht er den Torso des Opfers im Traum. Nein, nicht Opfer: Täterin. Schließlich habe sie ihn gezwungen, ihn benutzt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Deshalb hat er auch erfolgreich Schmerzensgeld von der Haftpflichtversicherung Toten eingefordert.

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Direkt nach dem Unfall war der Lokführer elf Wochen lang dienstunfähig. Ärzte diagnostizieren eine posttraumatische Belastungsstörung, eine psychische Erkrankung, wie sie Soldaten aus Kriegsgebieten mit nach Hause bringen. „Man fühlt sich hilflos, ist leicht reizbar, antriebslos“, sagt Stefan W. „Meine Familie hat mich selten gut gelaunt erlebt.“

Der 49-Jährige will seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen. Er hat Angst, seinen Job zu verlieren, wenn er darüber spricht, was sein Arbeitgeber nicht öffentlich diskutiert wissen möchte. Gerade in Zeiten, in denen ein psychisch kranker Pilot bei seinem Suizid 149 unbeteiligte Menschen mit den Tod riss.

Aber das Schweigen hält Stefan W. für falsch. Sein Therapeut sagt, es sei gut zu reden, und seine Wut im Bauch sagt ihm: „Kläre auf!“ Wut auf gedankenlos ausgesprochene Sätze wie „Hätte er sich doch lieber vor den Zug geschmissen“, wenn ein lebensmüder Geisterfahrer den Tod anderer Menschen verschuldet hat. „Keiner denkt an uns Lokführer!

Als Robert Enke sich damals vor einen Zug warf, entstand ja fast eine Art Heldenverehrung. Niemand fragte, wie es dem geht, der in der Lok saß. Sollen die Lebensmüden doch mit einem Föhn baden gehen, dann ziehen sie wenigstens niemanden mit hinein!“, sagt Stefan W. Aber natürlich sagt er gleich danach, dass jeder Selbstmörder einer zu viel ist und jeder Weg der falsche.

Aber manchmal ist es einfach zu schwer für ihn. Zumal es dann noch Leute gibt, die ihm sagen: „Das ist eben Berufsrisiko“, er hätte mit so was rechnen müssen. „Aber ich arbeite doch nicht bei einer Eliteeinheit der Bundeswehr, ich bin Lokführer!“ Und Lokführer zu sein ist für Stefan W. nicht nur ein Job, es ist sein Leben.

Schon sein Vater steuerte Personenzüge, die erste Modelleisenbahn, eine Spur TT, stand unter dem Weihnachtsbaum, als Stefan W. sechs Jahre alt war. Einen anderen Beruf will er nicht ausüben. Und dann kommt jemand und stellt sich auf seine Gleise.

Der Lokführer fühlt sich alleingelassen. Niemand außer seiner Familie habe sich um ihn gekümmert, als er an jenem Abend nach Hause kam. Zitternd, im Schock. Ja, die Bahn habe ihm nach dem Unfall psychologische Beratung angeboten, aber als die vorbei war, kam die Leere: „Man steht da wie Hein Blöd in der Wildnis. Ich erhielt nicht einen Anruf, nicht eine E- Mail der Verantwortlichen des Betriebes. Da war kein Interesse an meiner Erkrankung oder meiner Genesung. Ich war allein“, sagt Stefan W.

Allein mit der Angst, wenn man Funksprüche „aufgrund eines Polizeieinsatzes . . .“ aus anderen Zügen hört. Gelähmt vor Furcht, an jedem Nebeltag könnte eine Gestalt aus den Schwaden auftauchen, und der Bremsweg wäre dann natürlich wieder viel zu lang.

„Wissen Sie, dass man Leichengeruch träumen kann?“, fragt Stefan W. „Die Suppe kommt immer wieder hoch. Genauso wie die Frage: Warum ich? Wie konnte sie mir das nur antun?“

Nach einem Jahr ohne absolvierte 200 Fahrstunden erlischt die Fahrberechtigung eines Lokführers. Wer nach einem Personenunfall also nicht rechtzeitig wieder fit ist, muss die Prüfung erneut ablegen. „Viele betroffene Kollegen haben deshalb Angst um ihren Arbeitsplatz“, sagt der Lokführer.

Dazu die Bürokratie: Dienstunfallanerkennungsbescheid, Schlafmedizin, akute Belastungsreaktion, Amtsarzt, Traumaklinik – Worte, die Stefan W. nicht mehr hören kann. Es hat lange gedauert, bis seine Erkrankung anerkannt war, und trotzdem gab es Schwierigkeiten, bis ihm Arbeitserleichterungen zugestanden wurden. Stefan W. hat seine Frau zum Interview mitgebracht. Sie sitzt neben ihm, streichelt ihm über das Bein, wenn sie merkt, dass es ihm schwerfällt, weiter zu sprechen.

„Ohne meine Familie würde ich nicht wieder im Führerstand sitzen“, sagt Stefan W. Als er in seiner Lok zum ersten Mal an der Stelle vorbeifahren musste, wo die Täterin damals auf ihn wartete, rief er seine Frau an, sagte ihr, wie es ihm gerade ging.

Stefan W. weiß nicht, wer die Frau war, die sich auf seine Gleise gestellt hat. Er will auch nicht wissen, warum sie das getan hat. „Mir war nur wichtig, dass ein Polizist zu mir sagte, man habe einen Abschiedsbrief gefunden. Das hieß, dass ich keine Chance hatte. Sie wollte es so“, sagt er.

Näher will er die Täterin nicht an sich heranlassen. Sie ist sowieso immer da.

Robert Enke