Was ist das Geek Syndrom?

Als "Geek Syndrom" bezeichnete ein WIRED-Artikel Autismus im Allgemeinen sowie das vermeintliche überdurchschnittliche Vorkommen im Silicon Valley im Speziellen. Das trug zur Verbreitung des Stereotyps des superschlauen, autistischen Nerds bei. Eine irreführende Verallgemeinerung.

Die Bezeichnung “Geek Syndrom” wurde vom WIRED-Magazin im Jahr 2001 geprägt und bezog sich auf das vermeintliche überdurchschnittliche Vorkommen von Autismus im Silicon Valley. Die Hypothese war, dass im Umfeld der Tech-Industrie Autist*innen häufiger vorzufinden sind, als im Bevölkerungsdurchschnitt.

Der Ursprung des “Geek Syndrom”

Alles begann mit einem Artikel in WIRED. Im Januar 2001 erschien in WIRED, der Bibel der Tech-Branche, ein Artikel namens The Geek Syndrome, der in den kommenden Jahren das Narrativ bestimmen sollte. Die These des Artikels, verkürzt dargestellt:

Autisten würden überdurchschnittlich häufig in Tech arbeiten → Im Silicon Valley arbeiten viele Autisten → Die Geek-Autisten heiraten untereinander (mangels Alternativen) und gebären in assortativer Paarung ihrerseits noch mehr Autisten

Zwar ist richtig, dass Autismus genetische Ursachen hat und keine heilbare Krankheit ist (siehe auch Was ist die Ursache von Autismus?). Ebenfalls richtig ist, dass die Chancen höher sind, Autist zu sein, wenn ein oder beide Elternteile im Spektrum sind. Dennoch ist die aufgestellte These erstmal steil und eben auch nur das: eine Hypothese, wie der Artikel an einer Stelle selbst einräumt:

“Es ist nicht klar, ob es wirklich einen signifikanten Anstieg an Autisten in Kalifornien gibt, oder ob es schlicht und ergreifend öfter als früher diagnostiziert wird.” (WIRED, 2001)

Nicht alles im Artikel ist falsch. So ist die Mutmaßung, weshalb sich Autist*innen in der Tech-Welt wohlfühlen können durchaus die Beschreibung einer Arbeitsumgebung, in der sich Autist*innen wohlfühlen können:

“Die Kultur im Silicon Valley hat sich so entwickelt, dass sie den Bedürfnissen von Erwachsenen im Autismus-Spektrum entgegenkommen. In den Geek-Höhlen der Programmierer sind soziale Umgangsformen nebensächlich. Wenn dein Code fehlerfrei ist, spielt es keine Rolle, wie schräg du bist. Niemand wird dich darauf ansprechen, dass du seit zwei Wochen das gleiche Shirt trägst. Autisten fällt multitasking schwer, vor allem, wenn eines der Tasks direkte Kommunikation mit anderen Menschen ist. Die traditionelle Büro-Kommunikation, sprich: Flurfunk, durch einen Bildschirm und E-Mail zu ersetzen, gibt dem Programmierer Kontrolle über das Chaos des Alltags. Flache hierarchien können hilfreich sein für Menschen, die soziale Interaktionen nur schwer lesen können. Eine WYSIWYG-Welt, in der Anerkennung einzig und allein auf messbaren Indikatoren beruht, ist der Traum eines Autisten.” (WIRED, 2001)

Artikel voller Klischees

Darüber hinaus aber enthält der Text die üblichen Fehler: Der Film Rain Man wird fälschlicherweise als Porträt eines Autisten dargestellt (siehe auch War “Rain Man” Autist?). Wie immer steht das Umfeld des Autisten im Fokus (nicht der Betroffene selbst). Und als Beispiele werden nur auffällige Autisten mit Lernbehinderung und Betreuungsbedarf herangezogen (siehe auch Ist Autismus eine geistige Behinderung?).

Dass Autismus ein Spektrum ist, in dem die Mehrheit relativ unauffällig ist, wird zugunsten des lukrativen Tragödienmodells “Behinderung” unter den Teppich gekehrt (siehe auch Was ist die Autismus Spektrum Störung?). Dabei beleuchtet der Artikel Auffälligkeiten ausgerechnet in einer Branche, in der die meisten Menschen große intellektuelle Leistungen vollbringen, unbetreut, selbstständig.

Überhaupt legt der Artikel mit dem Wort “blame” (=beschuldigen), später noch “chilling” (=abschreckend) und “plague” (=Epidemie)  ein Narrativ fest, das 15 Jahre später in Bezug auf Autismus viel zu häufig noch in den Medien eingesetzt wird (siehe auch Gibt es eine Autismus-Epidemie?). Man könnte eine direkte Linie ziehen zwischen dem WIRED-Artikel und der fragwürdigen Passage in der Süddeutschen ziehen, wo von Leid, Verschlimmerung und Verhinderung in Zusammenhang mit Autisten die Rede ist.

WIRED war der Multiplikator eines Insider-Gags

Der Vollständigkeit halber muss erwähnt sein, dass WIRED die Vorurteile nicht schuf. Dass viele Tech-Menschen im Valley ins Spektrum fallen, war vorher schon ein Running Gag in der Industrie: Das Internet sei von Autisten für Autisten erfunden worden, um bei der Kommunikation zu helfen. Bill Gates wird es bis heute fremd diagnostiziert, Elon Musk und Steve Jobs auch, eine High-School-Lehrerin sprach vom “Engineers’ Disorder” in Bezug auf Asperger und Douglas Coupland schrieb einmal: “Ich glaube, als Menschen in der Tech-Industrie sind leicht austistisch.”

Was WIRED aber mit diesem Artikel tat, war diese Klischees und Insider-Witze an die breite Öffentlichkeit zu zerren, sicherlich mit besten Motiven, aber mit Folgen für die Betroffenen. Es ist eine Sache, wenn potenziell Betroffene selbstironisch ein Klischee bedienen. Eine andere Sache ist, dieses Klischee zu potenzieren und in einen negativen Kontext zu bringen, wie es der WIRED-Artikel getan hat.

Noch heute wirkt The Geek Syndrome nach. Case in point: Der oben angesprochene Artikel in der Süddeutschen ist eine direkte Konsequenz des WIRED-Artikels. Aber schon 2012 schrieb Die Zeit: “In Internetkreisen scheint Asperger zum Gencode eines erfolgreichen Unternehmers zu gehören.” Sie bezieht sich auf den WIRED-Artikel sowie eine Äußerung des Investors Peter Thiel, Startup-Gründer seien “auf eine Weise autistisch”.

Eine Aussage, die er mehrfach wiederholte. Unter anderem postulierte er, dass Autismus “ein Vorteil ist, wenn man nach Innovationen und großartige Firmen gründen möchte”. Die Gesellschaft sei ein problematischer Ort und Autisten könnten sich diesen Einflüssen besser entziehen. Ein wirklich optimistischer Euphemismus für die Ausgrenzung, die Autisten im Alltag häufig erfahren.

Autismus war plötzlich sexy

Der Artikel in WIRED und seine intellektuellen Kinder haben einseitige, das Spektrum nicht wiedergebende Darstellungen wie die von Sheldon Cooper beeinflusst, die das Stereotyp des roboterhaften Genies befeuern, was zur Folge hat, dass Autisten, die nicht mindestens einen 120er IQ vorweisen können, in Rechtfertigungsnöte kommen (“Du bist Autist? Das sieht man dir gar nicht an / Das hätte ich nicht gedacht / Was ist denn die 53. Nachkommastelle der Zahl Pi?”; siehe auch Ist Sheldon Cooper ein Autist?).

Gleichzeitig diagnostizieren Menschen ohne oder gegen fachärztliche Empfehlungen bei sich selbst Autismus, weil das eigentliche Ergebnis, oft Differentialdiagnosen, nicht ganz so sexy ist wie die Erklärung: “Du weißt schon, so wie Sheldon Cooper. Oder Steve Jobs.” Bei allem Respekt vor dem Wunsch, eine Erklärung für die eigenen Symptome zu finden, führt diese Verwässerung für diagnostizierte Autisten nur dazu, dass sie immer weniger ernst genommen werden. Eine Selbstdiagnose ist keine Diagnose (siehe auch Bin ich Autist?)

Aber stimmt es denn überhaupt, das mit dem Silicon Valley und den vielen Autist*innen?

Ungeachtet der Folgen für die Wahrnehmung von Autisten, ist grundsätzlich erstmal nicht von der Hand zu weisen, dass die Hypothese des WIRED-Artikels einer gewissen Logik nicht entbehrt. Pflanzen sich Autisten unter einander fort, ist die Chance tatsächlich höher, dass die Kinder auch ins Spektrum fallen.

Der Autismusforscher Simon Baron-Cohen entdeckte ein ähnliches Phänomen in Eindhoven, einem Zentrum der IT-Industrie in den Niederlanden. Dort waren zwei bis vier Mal so viele Kinder Autisten wie in den Vergleichsstädten.

Gleichzeitig geben solche Theorien keine Antwort darauf, ob es sich bei diesen Beobachtungen um eine Korrelation oder eine Kausalität handelt. Entsprechende Studien sehen einen Zusammenhang zwischen Autismus und dem Bildungsgrad, nicht dem Beruf. Ein ziemlich wichtiger Faktor, weil:

“Die Wahrscheinlichkeit, dass man bei einem Kind die Symptome des Autismus bemerkt und eine Diagnose sucht, steigt mit dem Bildungsgrad der Eltern.”

Eine andere Studie konnte einen Zusammenhang herstellen zwischen Autismus und Müttern in Tech, nicht aber zwischen Autismus und Vätern, die in der Tech-Branche arbeiten. Ein wichtiges Detail, da die große Mehrheit der Beschäftigten im Valley noch immer Männer sind. Auch das Alter der Eltern könnte ein Faktor sein.

Es ist also durchaus möglich, dass der Mythos des Silicon Valley Geek-Autisten einen wahren Kern hat. Gesicherte Erkenntnisse dafür gibt es jedoch nicht. Dass sich Menschen im Spektrum in einer Tech-Umgebung wohl fühlen, wundert indes nicht.

Die Stärke vieler Autisten ist etwas, das man First-Principle-Thinking nennt: “Statt in Analogien oder Traditionen zu denken, bricht man einen Prozess auf die wesentlichen Elemente herunter und schlussfolgert von der Stelle aus. Es ist ein gutes Mittel, etwas zu hinterfragen, ob es sinnvoll ist oder gemacht wird, weil es immer schon so gemacht wurde.”

Darüber hinaus hat die Tech-Industrie vielen Autist*innen geholfen, sich im Alltag besser zurechtzufinden. Apps und soziale Netzwerke unterstützen unsere Kommunikation und eröffnen uns Betätigungsfelder.

Aber nicht jeder autistische Mensch ist technisch interessiert. Die Interessengebiete autistischer Menschen sind sehr breit gefächert. Es gibt nicht DEN Autisten, so wie es auch nicht DEN Nicht-Autisten gibt. Jeder von uns hat mit eigenen Herausforderungen zu kämpfen. Autismus ist ein Spektrum. Vielleicht gibt es im Silicon Valley viele Autist*innen, die Tech-Geeks sind. Aber nicht alle Autist*innen sind Tech-Geeks. Daraus einen Fakt abzuleiten und medial zu verbreiten, ist pauschalisierend und falsch.

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