Bis zu fünf anonyme Anzeigen gingen täglich über den Schreibtisch von Thomas Eigenthaler, als dieser Vorsteher des Finanzamts III in Stuttgart war. „Die Anzeigen kamen von enttäuschten Geschäftspartnern, verlassenen Ehefrauen und Bürgern, die sich über Ruhestörung des Nachbarn aufregten und deshalb das Finanzamt auf die Putzhilfe hinwiesen, die womöglich schwarz beschäftigt war“, sagt Eigenthaler, der heute Vorsitzender der Deutschen Steuergewerkschaft ist. Er vertritt die Interessen der Steuerfahnder im Land.
Zu seiner Zeit als Behördenleiter in Stuttgart gingen die Anzeigen noch ausschließlich per Brief, Fax, E-Mail oder Telefon ein. Jetzt kommt in Baden-Württemberg als erstem Bundesland ein Weg im Internet hinzu: ein „anonymes Hinweisgeberportal“, wie das die Grün-Schwarze-Landesregierung nennt.
Andere sprechen von einem „Steuerpranger“, der nur das Denunziantentum in Deutschland fördere. In dem Portal können den Behörden über eine einfache Eingabemaske vermeintliche Steuerstraftaten gemeldet werden.
Es reicht eine kurze Nachricht in einem dafür vorgesehenen Textfeld, zudem lassen sich bis zu fünf Dateien mit Dokumenten zur Unterstützung des Verdachts hochladen. Über einen digitalen Postkasten sollen sich die Hinweisgeber zudem auch später noch mit den Steuerfahndern austauschen können. Dadurch sind auch Rückfragen bei anonymen Hinweisgebern möglich.
Das Portal ermögliche eine einfache Kommunikation zwischen Steuerverwaltung und Bürgern, freute sich Landesfinanzminister Danyal Bayaz (Grüne). „So können wir Steuerbetrug besser verfolgen und für mehr Steuergerechtigkeit sorgen“, sagt er. Er erwartet steigende Steuereinnahmen dank des neuen Portals.
Die Finanzverwaltung sei auf Hinweise von außen angewiesen. Im vergangenen Jahr hatten die Fahnder in Baden-Württemberg nach Angaben des Ministeriums rund 250 Millionen Euro zunächst hinterzogene Steuern entdeckt, bundesweit seien es 3,2 Milliarden Euro gewesen.
„Eigentlich ändert sich wenig“
Bei der FDP sieht man den neuen digitalen Weg dagegen kritisch. „Digital ist die Hemmschwelle, andere zu denunzieren, deutlich geringer“, sagte der stellvertretende Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki dem WELT-Nachrichtensender.
Er gehe nicht davon aus, dass es dadurch tatsächlich zu höheren Fahndungserfolgen komme. Dagegen sei es für Unternehmen immer wieder schwierig, einen einmal im Raum stehenden Verdacht, vollends auszuräumen.
Die zum Teil heftigen Reaktionen auf den Digitalisierungsschritt der Finanzverwaltung im Südwesten sind auch vor der heißen Phase des Bundestagswahlkampfs zu sehen. CSU-Generalsekretär Markus Blume beispielsweise twitterte, die Grünen wollten „Denunziantentum fördern und Misstrauen unter Nachbarn säen. Auf was muss man sich noch einstellen, wenn die Grünen an die Regierung kommen?“
Auch künftig wird sich kein Steuerfahnder in Bewegung setzen, wenn Belege für die Anschuldigungen fehlen, sagt Gewerkschafter Eigenthaler. An der eigentlichen Arbeit ändere sich durch den zusätzlichen, digitalen Hinweisweg wenig. Er könne die Arbeit aber insofern erleichtern, als die Informationen strukturierter bei den Finanzämtern landeten.
Auch das neue Portal kommt nicht ohne „menschlichen Filter der Plausibilisierung“ aus, wie es Eigenthaler nennt. Steuerfahnder schauen sich also auch bei der digitalen Variante an, welche Anzeigen eingehen und entscheiden dann, wo sich weitere Nachforschungen lohnen könnten.
Aus eigener Erfahrung geht der ehemalige Behördenleiter davon aus, dass schätzungsweise nur einer von fünf anonymen Anzeigen tatsächlich nachgegangen wird.
Die weit überwiegende Zahl der Anzeigen sei so detailarm oder in einem solchen Ton verfasst, dass man sofort erkenne, dass es dem Absender nur darum gehe, andere zu denunzieren. Das sei bislang so gewesen und das werde in Zukunft so sein, sagt Eigenthaler.
Kritik und Rückhalt für Meldesystem
Darauf verweist auch Finanzminister Bayaz. „Anzeigen müssen selbstverständlich gut begründet sein, sonst werden sie von der Steuerfahndung erst gar nicht bearbeitet“, sagte er zu der Kritik, dass sich mit dem neuen Portal plötzlich unschuldige Bürger dem Verdacht der Steuerhinterziehung ausgesetzt sehen könnten.
„Niemand muss befürchten, dass künftig die Steuerfahndung vor der Tür steht, nur weil der Nachbar ihn angeschwärzt hat“, sagt Bayaz. Ein einfacher Hinweis genüge ausdrücklich nicht. Es gehe außerdem um „relevante Fälle von Steuerbetrug“, stellte der Mann klar, der im Mai sein Abgeordnetenmandat im Deutschen Bundestag niederlegte und in die Regierung von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wechselte.
Die schwarz beschäftigte Putzfrau dürfte die Fahnder also auch in Zukunft kaum interessieren – dafür ist die Personaldecke in vielen Finanzverwaltungen auch schlicht zu dünn.
Rückendeckung erhielt Bayaz von Transparency Deutschland: „Begriffe wie ‚Denunziantentum‘ und ‚Blockwartmentalität‘ sind absolut fehl am Platz. Es geht beim Whistleblowing um Hinweise auf Verstöße, die der Allgemeinheit schaden und deren Aufdecken im Interesse der Gesellschaft liegt“, sagt Louisa Schloussen. Entgegen der Vorurteile zeige sich in der Praxis, dass absichtliche Falschmeldungen kaum vorkommen und kein Problem seien.
Ob durch das Online-Portal, wie FDP-Politiker Kubicki befürchtet, tatsächlich die Hemmschwelle sinkt, einfach mal einen unliebsamen Nachbarn oder Wettbewerber zu melden, werden letztlich erst die kommenden Monate zeigen.
Dann wird sich zudem herausstellen, inwiefern andere Bundesländer dem Weg Baden-Württembergs folgen. An der seit Langem geforderten Digitalisierung der Finanzverwaltung wird in vielen Landeshauptstädten gearbeitet.
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